Gedanken zum Weihnachtsfest 2024
Auf dem freien Feld dieser Welt
„In dieser Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.“ So heißt es im Weihnachtsevangelium des Lukas. Wie war das damals mit den Hirten? Wie erging es ihnen? Wie lebten sie?
Es war sicherlich kein einfaches Leben. Hirten damals vor 2000 Jahren in Palästina, das sind Menschen, die tagein und tagaus mit ihrem eigenen Leben und ihren Sorgen beschäftigt sind. Die schauen, dass sie über die Runden kommen und irgendwie überleben können. Die sich auch in der Dunkelheit des Lebens auskennen: in der Krankheit und Pflege ihrer Herde, in Armut und Bedürftigkeit.
Der Evangelist Lukas beschreibt, dass die Hirten „auf freiem Feld“ lagern. Dort leben sie gemeinsam mit ihren Schafen – Wind und Wetter ausgesetzt. Äußeren Einflüssen ausgesetzt, die sie selbst nicht ändern können: dem Wetter, das maßgeblich zum Gelingen ihrer Tätigkeit beiträgt, oder wilden Tieren, die ihre Herde bedrohen. Und inneren Einflüssen ausgesetzt – Sorgen, wie es weitergeht, und Ängsten, ob ihre Tiere und damit sie selbst weiter bestehen werden können.
Die Hirten, die „auf freiem Feld“ lagern, sind vielleicht ein treffendes Bild für uns heute. Auch wir kommen uns so manches Mal vor wie „auf freiem Feld“ – hineingeworfen in diese Welt. Jean-Paul Sartre meinte, der Mensch sei in die Welt „hineingeworfen“ worden und müsse sich nun selbst definieren. Für viele fühlt es sich zumindest oft so an. Wir befinden uns auf dem „freien Feld“ dieser Welt. Denken wir nur an die Unsicherheiten, in die wir hineingestellt sind und mit denen wir leben müssen. Dass die Wendung „Ampel-Aus“ zum Wort des Jahres 2024 gewählt worden ist, spiegelt diese Situation wider. Der schreckliche Anschlag in Magdeburg vermehrt bei vielen Menschen Unsicherheiten und Ängste.
Auf dem „freien Feld“ dieser Welt sind wir vielen Einflüssen ausgesetzt. Wir sind äußeren Einflüssen ausgesetzt:
- Wir leben in einer Wohnung oder einem Haus, wir leben in Beziehungen in der Familie und im Freundeskreis. Hier und auf unserer Arbeit sind wir vielen verschiedenen Menschen und Anforderungen ausgesetzt – manches Mal gar nicht so einfach, das alles unter einen Hut zu bringen.
- Wir sind der Technik ausgesetzt: Alles wird komplexer und man braucht schon ein halbes Studium, um die neue Spülmaschine richtig zu bedienen.
- Wir sind der Digitalisierung ausgesetzt, woraus sich auch ungute Zwänge ergeben: Erreichbarkeit Tag und Nacht, Übersättigung von Kommunikation. Vor kurzem habe ich mal die E-Mails gezählt, die ich innerhalb einer Woche zu bearbeiten hatte – es waren 134. Dazu Telefonate und Nachrichten bei WhatsApp.
- Wir sind der Künstlichen Intelligenz ausgesetzt, die rasante Fortschritte macht. In den kommenden Jahren und Jahrzehnten wird das unsere Welt sicherlich weiter beeinflussen und verändern. Nebenbei bemerkt: Fortschritt ist immer ambivalent, es braucht auch immer einen moralischen Fortschritt, dem wir aber allzu oft hinterherhinken.
- Und schließlich: Wir sind der Politik Politische Instabilitäten in unserem Land und darüber hinaus führen dazu, dass Despoten und großspurige Meinungsmacher Anklang finden. Auch ihnen und ihren Launen sind Menschen ausgesetzt.
Wir sind aber auch inneren Einflüssen ausgesetzt – denken wir an die Ideologien unserer Zeit:
- Wir sind dem Materialismus ausgesetzt, der uns weismachen möchte, dass nur das zählt, was wir haben und besitzen können. Das Wesentliche, das wirklich Entscheidende unseres Menschseins, gerät dabei allzu schnell aus dem Blick.
- Wir sind dem Funktionalismus ausgesetzt, der behauptet, nur derjenige Mensch sei etwas wert, der auch „funktioniert“, der „etwas bringt“. Alle, die nicht in dieses Schema des Funktionierens passen, fallen durchs Raster: Beeinträchtigte, Kinder im Mutterleib, Kranke und Menschen an ihrem Lebensende. Der Funktionalismus lässt eine Wertschätzung des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum Tod vermissen und führt zu einer Missachtung der Würde des Menschen, die gemäß dem Artikel 1 unseres Grundgesetzes doch unantastbar ist.
- Wir sind Ängsten und Unsicherheiten ausgesetzt, die uns innerlich beschäftigen, die uns manchmal den Schlaf rauben und Menschen zermürben können.
Wir befinden uns auf dem „freien Feld“ dieser Welt. Wir sind äußeren und inneren Einflüssen ausgesetzt. Was also tun?
Schauen wir auf die Hirten. Sie halten Nachtwache bei ihrer Herde. Das heißt: Die Hirten sind Menschen, die auch dann wachen, wenn andere schlafen. Sie können hinaushören in Wind und Wetter und können die Gezeiten der Natur deuten. Sie sind erfahren und vertrauen nicht nur sich selbst. Sie sind weise, weil ihre Welt viel weiter ist als die Welt begrenzter Experten. Darum sind die Hirten auch bereit und empfänglich für die Botschaft Gottes.
Und genau das geschieht: Sie hören auf die Botschaft des Engels. Sie hören auf die Stimme Gottes in ihrem Herzen. Und sie machen sich auf den Weg. Gemeinsam eilen sie zur Krippe. Dort, an der Krippe in Betlehem, finden sie das Licht, das jeden Menschen erleuchtet.
Darauf kommt`s doch an! Dass wir als Menschen zusammenstehen. Und dass wir uns gemeinsam aufmachen zu Jesus – so wie die Hirten. Gemeinschaft untereinander und mit Gott – das schenkt uns Halt und Geborgenheit! Wir brauchen doch alle einen solchen Halt! Wir brauchen jemanden, an den wir uns im wahrsten Sinn des Wortes „halten“ können! Der Glaube an Jesus Christus ist ein solcher Halt – ja, der Halt schlechthin! Keine Träumerei, keine Illusion, sondern echter Halt, auch in schweren Zeiten! So viele Menschen vor uns haben das schon erlebt – und zwar nicht nur die bekannten Heiligen, sondern viele gläubige Menschen, die uns Vor-Bilder im Glauben sind! So wie die Hirten dürfen auch wir zueinander sagen: „Lasst uns nach Betlehem gehen!“ Denn dort wartet das Licht des Lebens auf uns.
Ermutigen wir uns gegenseitig in diesem gläubigen Vertrauen! In Betlehem, das heißt übersetzt: „Haus des Brotes“, da hält Gott für uns das Heil bereit, den Halt, den wir alle brauchen! Es ist Jesus Christus, der sich uns schenkt im Sakrament seiner Liebe! Er nährt unsere Seelen durch das Licht seiner Gnade, seiner Gegenwart, seiner Liebe, seiner Zuwendung – und schenkt uns Menschen Halt und Geborgenheit.
Das Weihnachtsfest macht uns deutlich: Wir leben nicht nur auf „freiem Feld.“ Wir sind nicht einfach „hineingeworfen in diese Welt“. Hinter unserem Leben steht nicht bloßer Zufall, sondern die ewige Liebe Gottes, die uns schon seit Ewigkeit her erdacht und gewollt hat. Wir Menschen sind nicht ein zufälliges und sinnloses Produkt. Sondern jeder von uns ist Frucht eines Gedankens Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht! Durch die Menschwerdung seines Sohnes hat Gott uns diesen Sinn eröffnet, lässt er uns teilhaben an seiner Ewigkeit.
Die Hirten haben sich von dieser Botschaft innerlich berühren lassen. Aller äußeren und inneren Einflüsse zum Trotz haben sie sich auf den Weg gemacht und sind zur Krippe geeilt. Sie sind nicht ziel- und planlos umhergeirrt und haben woanders nach Glück und Erfüllung gesucht, so wie es heute immer wieder versucht wird. Der Mensch ist auf Sehnsucht hin angelegt, denn er ist so gebaut, dass nichts in der Welt ihn letztlich zufrieden stellen kann. Nach dem Bild des Wortes Gottes erschaffen, findet er außerhalb einer ihn tragenden Beziehung zum göttlichen Wort, zu Christus, keine Erfüllung – so schreibt es der große Kirchenvater Athanasius schon in einem Text aus dem Beginn des 4. Jahrhunderts. Die Hirten haben das intuitiv gespürt – und haben sich nicht irgendwo hin, sondern auf den Weg zur Krippe gemacht.
Tun wir es ihnen gleich! Tun wir uns zusammen und eilen auch wir zur Krippe! Denn dort, allein dort, finden wir vollkommene, ewige Liebe. Ich bin fest überzeugt und erfahre es immer wieder neu: Wer sein Herz für Jesus öffnet und ihm sein Leben anvertraut, der empfängt eine Liebe und Geborgenheit, die wir Menschen eben nur empfangen, aber nicht selbst machen können. In diesem Sinn wünsche ich Ihnen und euch allen von Herzen frohe und gesegnete Weihnachten!